Streiks können tödlich sein

Als Volkswirt und noch dazu als Schüler von Professor Sinn kann ich dem sozialpolitischen Instrument eines Streiks durchaus etwas abgewinnen. Zählen doch in unserer globalisierten und durchdigitalisierten Welt allenfalls Quartalsgewinne oder noch schneller verdientes Geld. Wo bleibt da der Mensch – sprich Arbeitnehmer – der diese Gewinne erst ermöglicht?

Diesem neoliberalen Dogma wurden mit der Zeit nahezu alle sozialpolitischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte geopfert – wenigstens das Streikrecht hat überlebt. Daher wäre es eigentlich völlig normal gewesen, dass die Gewerkschaft Verdi jetzt zum Warnstreik in München aufgerufen hat, um von der Arbeitgeberseite wenigstens einmal ein erstes Angebot für die anstehenden Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst zu verlangen – eigentlich!

Aber was ist schon normal in der jetzigen Corona-Pandemie? Urlaubsreisen entwickeln sich zum Risiko, bei jedem Café-Besuch wird das Recht auf Datenschutz mit den Füßen getreten, Fußballspiele degenerieren zu Geisterspielen, die Wiesn ist von den Behörden ja schon abgesagt worden und die Weihnachtsmärkte stehen auf der Kippe. Aber Streiken ist okay?

Maske an Maske im ÖPNV

Nach dem völlig chaotischen Streik-Dienstag in München, muss sich Verdi schon fragen lassen, ob es in diesen Zeiten dieses Kampfmittel wirklich gebraucht hat? Zumal absehbar war, dass die Corona-geforderten 1,5 Meter Abstand illusorisch werden, wenn man alle U-Bahnen im Depot lässt, und ein Plätzchen in den, wenn überhaupt, nur gelegentlich fahrenden Bussen und Trambahnen – Maske an Maske mit den anderen Passagieren – zur Glücksache wird.

Klar, Streiks müssen weh tun, um wirksam zu sein – aber potenziell tödlich? Denn wen findet man – zumindest ab neun Uhr morgens – überwiegend im ÖPNV? Richtig: Rentner, also die oberste Corona-Risikogruppe.

Eine 20-minütige Fahrt vom Petuelring zum Sendlinger Tor in einer überfüllten Tram ist – um es einmal infektionsepidemiologisch auszudrücken – ein wahres Superspreading-Ereignis: Die nötige Menschenmenge passt, die Zeitdauer passt, und das Virus ist ohnehin überall. Ischgl lässt grüßen.

Aber nicht nur bei Verdi hat man das Gefühl, dass die Obergewerkschaftler morgens wohl eher mit dem Auto oder allenfalls mit dem Fahrrad ins Büro fahren, und sie daher vielleicht gar nicht wissen, was sie mit ihrem jetzigen Aufruf zur Arbeitsniederlegung angestellt haben. Auch die Arbeitgeberseite – also in diesem Fall der Staat – muss sich fragen lassen, warum man die aktuelle Tarifrunde so angeht, als wäre nichts geschehen?

Verantwortungsvolle Tarifpartner handeln anders

Ist es nicht der gleiche Staat, der nach der ersten Corona-Welle vor allem die Mitarbeiter im Öffentlichen Dienst mit – haushaltsschonendem – Lob überschüttet hat, weil sie das Land am Laufen gehalten haben? Und der uns Bürger jetzt erneut zu „verantwortungsvollem Handeln“ aufruft, um die aktuelle, zweite Corona-Welle nicht aus dem Ruder laufen zu lassen?

Wenn es sich also tatsächlich um den gleichen Staat handelt, sollte ihm als verantwortungsvoller Tarifpartner an vernünftigen Lösungen gelegen sein, BEVOR es zu Warnstreiks kommt.