München ist gesichtslos geworden

Sechs Wochen Corona-Hausarrest – keine Pizzeria, kein Biergarten, kein Eiscafé. Und heuer auch keine Wiesn. Ich dachte bisher, diese gastronomische Enthaltsamkeit sei das Schlimmste, was es im Sinne der Volksgesundheit zu erdulden gilt. Doch man kann immer noch einen draufsetzen.

Seit einer Woche nun also auch noch Maskenpflicht in Geschäften, Bus und Trambahn. Das heißt, maskiert, um nicht zu sagen vermummt. Ein ziemlich komisches Gefühl: Menschen, die sich begegnen, werden kritisch beäugt. Wer ist das? Was will sie? Droht Gefahr?

Normalerweise stellen wir moderne Menschen uns solche Fragen nicht bewusst, denn das Gehirn erledigt die Beantwortung schon vorher – unterbewusst. Der Verarbeitungsprozess bei der emotionalen Gesichtserkennung erfolgt außerordentlich schnell.

Bereits nach 170 Millisekunden hat unser Gehirn das Gesicht eines Gegenübers nach bestimmten Merkmalen gescannt und erkennt die charakteristischen individuellen Abweichungen von einem prototypischen Gesicht. Nach weiteren 350 Millisekunden kommt unterbewusst die Antwort, ob es sich um Freund oder Feind handelt.

Jahrmillionen für die Katz

Evolutionsbiologisch stellt diese kognitive Fähigkeit einen deutlichen Überlebensvorteil dar, zum Beispiel, um Konflikten aus dem Weg zu gehen. Unser Gehirn wurde in Jahrmillionen eines evolutionsbiologischen Try-and-error-Verfahrens auf Selbstschutz programmiert. Denn unter Umständen ist sofortiges Handeln – Flucht oder Kampf – erforderlich, und da zählt jede Sekunde.

Doch jetzt gilt Maskenpflicht, und dieser antrainierte Schutzmechanismus ist von heute auf morgen futsch. Die pandemiebedingt umwälzenden Veränderungen betreffen aber auch noch ganz andere gesellschaftliche Bereiche – etwa das richtige Verhalten auf Demonstrationen.

Vermummt zur Demo – ja, bitte!

Wer bislang vermummt bei einer Demo mitmarschierte, geriet recht schnell ins Visier schwer bewaffneter Ordnungshüter – wahlweise als links- oder rechtsradikales Subjekt. Diese Gefahr besteht jetzt nicht mehr – im Gegenteil.

Zum Tag der Arbeit waren bundesweit zwar nur einige wenige der sonst traditionellen Kundgebungen und Demonstrationen erlaubt, die aber strikt unter Einhaltung der allgemeinen Corona-Mundschutz-Maßnahmen. Also vermummt zur Demo – ja bitte!

Aber evolutionsbiologische Verwirrung hin, Umdeutung von Demonstrations- und sonstigen Grundrechten her: Für Viele viel wichtiger ist offensichtlich, dass sie ihre wochenlang gewucherte Corona-Matte loswerden und der zuvor akribisch gepflegte Hippsterbart wieder in Form gebracht wird – auch, wenn man ihn unter der Maske nicht sieht.

Die seit heute wieder aus dem Shutdown entlassenen Friseurläden in der Umgebung jedenfalls improvisieren, was die Kreativität hergibt. Mit allem möglichen Gestühl werden Wartebereiche im Freien für die nach dem ersten Schnitt lechzende Kundschaft geschaffen. Und die wartet geduldig.

Re-Opening „Salon Prinz“